Diskussion zum wissenschaftlichen Hintergrund für die Überarbeitung der Ernährungspyramide
Schweizer Fachleute sind uneins, was bei den überarbeiteten Ernährungsempfehlungen Priorität haben soll: dass Menschen möglichst alt werden oder dass sie eine lebenswerte Zukunft haben. In diesem Artikel beleuchten wir den Hintergrund unterschiedlicher Prioritätensetzung und machen Vorschläge zum weiteren Vorgehen.
Zwei Berichte, ein Thema - wissenschaftlich basierte Ernährungsempfehlungen
Im August 2022 hat ESU-services einen Bericht zu den wissenschaftlichen Grundlagen für Schweizer Ernährungsempfehlungen veröffentlicht und in einem LinkedIn Blog vorgestellt. Dieser Bericht ist im Rahmen eines Auftrages des BLV entstanden. Aufgrund von unterschiedlichen Auffassungen zur Gewichtung der Gesundheitsgefahr durch Umweltbelastungen wurde ESU-services aus dem Projekt ausgeschlossen, die Arbeiten wurden nicht vollständig bezahlt und der Auftrag zu diesem Berichtsteil an eine neue Firma vergeben.
Im Projektverlauf gab es aber unterschiedliche Meinungen über die Priorisierung von Gesundheits- und Nachhaltigkeitsaspekten, wie Urs Stalder vom BLV bestätigt. «Das CHUV hat die Zusammenarbeit mit ESU-services deshalb beendet.»
Unser Bericht wurde nach Veröffentlichung den Projektpartnern und den Auftraggebern vom BLV zur Verfügung gestellt. Mit einer Interpellation zu diesem Thema wurde im Nationalrat auf die Relevanz des Themas und Vorgehens hingewiesen.
Der Projektbericht des Projektes wurde vom CHUV dann in «überarbeiteter» Fassung im April 2023 veröffentlicht.
In diesem Blog schauen wir uns die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Berichte zum gleichen Thema an.
Wo gibt es Einigkeit zur Überarbeitung der Ernährungsempfehlungen?
In vielen Punkten hinsichtlich der Umweltbelastungen durch die Ernährung gibt es grundsätzlich Einigkeit zwischen dem Bericht von ESU-services und dem Projektbericht des CHUV. Die Ernährung ist ein wesentlicher Treiber für die von der Schweizer Bevölkerung verursachten Umweltbelastungen. Die wichtigsten Produktgruppen sind Fleisch, Milch und Eier und dabei die in der Landwirtschaft anfallenden Umweltbelastungen. Dabei steht aus Umwelt- und Gesundheitssicht rotes Fleisch (Rind, Kalb, Schwein, Schaf etc.) besonders in der Kritik. Für eine nachhaltigere Ernährung bedarf es neben weiteren Verbesserungen in der Produktion auch Änderungen im Ernährungsstil und damit Anpassungen hinsichtlich des umweltverträglichen Masses der Tierproduktion.
Wo gibt es wesentliche Unterschiede in den Berichten?
Hauptunterschied der beiden Berichte ist die für die Ökobilanzierung verwendete Datengrundlage. ESU-services verwendete gemäss Angebot und Projektvertrag die ESU Datenbank für Nahrungsmittelproduktion und Konsum mit der der ganze Schweizer Nahrungsmittelkonsum vollständig, konsistent und bis zum Supermarkt bilanziert werden kann.
Die CHUV Studie stützt sich jetzt auf eine Mischung verschiedener Datenbanken aus Frankreich, Niederlande und der Schweiz, in der viele Schweizer Produktionsweisen nicht abgebildet werden. Dies wird von der Autorin auch als Haupteinschränkung genannt (ohne dass dabei auf die ESU Datenbank verwiesen wird, die gemäss Auftragserteilung zu verwenden war). Leider waren die Auftraggeber nicht bereits hier in eine geeignete Datengrundlage zu investieren.
Bei der Analyse der pflanzlichen Ersatzprodukte für Fleisch und Milchprodukte, bleibt unklar welche Datengrundlagen vom CHUV verwendet werden. Die Analyse erscheint nicht immer nachvollziehbar, wenn z.B. bei Falafel davon ausgegangen wird, dass diese Olivenöl enthalten.
Flugtransporte, die bekanntermassen sehr umweltschädlich sind, werden für die Analyse des CHUV scheinbar nicht berücksichtigt, obwohl hier auch durchschnittlichen Daten für Nahrungsmittelgruppen in der ESU-Datenbank verfügbar sind und verwendet werden könnten.
Der Bericht des CHUV erwähnt zwar, dass mit der Einhaltung der Ernährungsempfehlungen 49% der Umweltbelastungen durch die Schweizer Ernährung eingespart werden könnten, zieht daraus jedoch keine Konsequenzen. Die Relevanz der einzelnen Produktgruppen für die Umweltbelastung durch die gegenwärtige Schweizer Ernährung wird kaum bis gar nicht thematisiert. Um die Wichtigkeit des Ernährungsstil in Kontext zu setzen und effektive Massnahmen zu fördern, bietet der Bericht von ESU-services hierzu vertiefte Einblicke. Der Bericht des CHUV versäumt dies leider.
Im Bericht von ESU werden zusätzliche Auswertungen in Bezug zu verschiedenen Nahrungsmittelinhaltsstoffen gezeigt und ausserdem aufgezeigt wie viele Portionen der Nahrungsmittel gegessen werden müssen, um einen substanziellen Beitrag für einzelne Nährstoffe zu geben.
Im Bericht des CHUV ist die mangelnde Erfahrung zu den Feinheiten des Themas sichtbar. So wird z.B. auf Seite 215 bei Weichkäse eine Synergie und für Hartkäse ein Konflikt bezüglich Umwelt- und Gesundheit gesehen. Die unterschiedlichen Umweltbelastungen hängen dabei von der Menge Milch pro g Käse ab. Hartkäse braucht mehr Milch, hat aber mit dem höheren Trockensubstanzgehalt auch eine höhere Nährstoffdichte. Somit ist es nicht unbedingt zielführend mehr Weichkäse, statt Hartkäse zu konsumieren.
Insgesamt geht der ESU-Bericht auch bei der Interpretation der Ökobilanzergebnisse hinsichtlich umweltbewusster Ernährung deutlich weiter und versucht aus Umweltsicht Hinweise für die Anpassung der Ernährungsempfehlungen zu geben.
Welche Erkenntnisse aus dem CHUV Bericht sind besonders interessant?
Interessant ist im Bericht des CHUV die Erkenntnis in Kapitel 4.3 zum unterschiedlichen Wording in internationalen Ernährungsempfehlungen zum Konsum von rotem Fleisch. Während in anderen Ländern von einer maximal empfohlen Fleischmenge gesprochen wird und damit der Umwelt- und Gesundheitsproblematik Rechnung getragen wird, sprechen die Schweizer Empfehlungen bisher davon, dass 2-3 Portionen «genügen». Hier scheint es dringend geboten in den zu überarbeitenden Ernährungsempfehlungen deutlich auf die Umwelt- und Gesundheitsgefahren durch den überhöhten Schweizer Fleischkonsum hinzuweisen.
Interessant ist der sehr kurze Hinweis in Kapitel 8 des CHUV-Berichtes, das 80% der Gesundheitskosten in der Schweiz durch nicht-übertragbare Krankheiten (NCD) verursacht werden. Eine ungesunde Ernährung wird dabei als wichtigster Faktor benannt. Hierfür wird allerdings eine globale Publikation zitiert (11 Mio. Tote). Global gesehen scheinen aber Risikofaktoren wie Unter- und Fehlernährung, Umweltbelastungen, Rauchen, wirtschaftliche und soziale Faktoren sehr ungleich verteilt, so dass die Zusammenfassung diesen wichtigen Aspekt etwas arg verkürzt darstellt.
Für die politische Diskussion scheinen verlässliche Datengrundlagen zu Auslösern und Kosten der NCD im CHUV-Bericht nicht genügend aufbereitet. Tote und Gesundheitsschäden werden durch verschiedene Faktoren ausgelöst und für die Schweiz scheint es hierzu noch keine verlässlichen und vergleichbaren Grundlagen hinsichtlich der durch Mangel- und Fehlernährung sowie der durch die Schweizer Ernährung über Umweltbelastungen verursachten Gesundheitskosten zu geben. Die sehr verkürzte Aussage, dass ernährungsbedingte Krankheiten für einen Grossteil der Gesundheitskosten in der Schweiz verantwortlich sind, erscheint nicht ausreichend belegt.
Konflikte bezüglich Umwelt- und Gesundheit gibt es bei den Ernährungsempfehlungen vor allem bei Faktoren möglicher Mangelernährung, während für Fehlernährung (Zucker, Fett) kaum Zielkonflikte entstehen. Die Mangelernährung macht in der Schweiz vermutlich auch nur den kleineren Teil der Gesundheitskosten aus. Hier scheint es also dringend geboten zu einem guten Ausgleich verschiedener Wirkungspfade zu kommen. Aus unserer Sicht ist dabei ein deutlich höherer Fokus auf die indirekt verursachten Umweltbelastungen zu setzen.
Was fehlt im Bericht des CHUV für das BLV?
Leider fehlt im CHUV Bericht eine klare Zusammenfassung welche ernährungsbedingten Krankheiten in der Schweiz auf einen Mangel an Nährstoffen zurückzuführen sind. Insbesondere bei der Proteinversorgung bleibt unklar welche Menge an Proteinen für eine gesunde Ernährung minimal konsumiert werden muss.
Einerseits erörtert der Bericht des CHUV zwar ausführlich mögliche Auswirkungen der Ernährung auf die Gesundheit im globalen Kontext. Andererseits werden Auswirkungen von Umweltschäden auf die menschliche Gesundheit ausgeblendet. Auf Seite 2 des Berichts von ESU-services wird abgeschätzt, wie viele Tote durch Umweltbelastungen verursacht. Gemäss dem medizinischen Fachjournal «The Lancet» sterben jedes Jahr weltweit etwa neun Millionen Menschen durch Umweltverschmutzung in Luft, Wasser und Böden. Ein substanzieller Teil dieser Umweltbelastungen geht auf die Landwirtschaft und damit letztlich auch auf unsere Ernährung zurück. Dies zeigt die direkten negativen Auswirkungen von Umweltbelastung auf die menschliche Gesundheit und erhöht die Relevanz einer «gesunden Umwelt» bei möglichen Interessenskonflikten. Dieser Aspekt fehlt im CHUV Bericht gänzlich.
Im Bericht des CHUV fehlt auch eine vertiefte Interpretation für einzelne Produktgruppen und Fragestellungen der umweltfreundlichen Ernährung. Zwar werden die Umweltbelastungen der einzelnen Produktgruppen analysiert, ihre Relevanz in Bezug auf die Umweltbelastungen der gegenwärtigen Ernährungsgewohnheiten in der Schweiz wird jedoch nicht weiter betrachtet. Für eine Anpassung der Ernährungsempfehlungen mit dem Ziel einer nachhaltigen Ernährung in der Schweiz ist dies jedoch unverzichtbar.
Politische Diskussion zu den neuen Schweizer Ernährungsempfehlungen
Im Kontext der Ernährungsempfehlungen sind die staatlich geförderten Aktivitäten der Interessenverbände Proviande (Schweizer Fleisch) und Swissmilk (Milch) von Seiten der Schweizer Politik kritisch zu hinterfragen. Mehr als 60% der staatlichen Gelder gehen in diesen Bereich, während für Gemüse und Früchte weniger als 5% ausgegeben werden. Eine verstärkte Förderung des Konsums von pflanzlichen Produkten wie Früchten und Gemüse wäre aber sowohl aus Umwelt- als auch aus Gesundheitssicht angebracht. Der Absatz von aus Umwelt- und Gesundheitssicht problematischen Lebensmitteln sollte nicht staatlich gefördert werden, wenn er wissenschaftlichen Ernährungsempfehlungen oder Erkenntnissen widerspricht. Ferner sollten die Ernährungsempfehlungen auf vollständigen und guten wissenschaftlichen Grundlagen beruhen. In diesem Sinn unterstützen wir die Motion im Nationalrat zu «Ernährungsempfehlungen umsetzen für weniger Fleisch, dafür nachhaltig, tiergerecht und regional erzeugt».
Schlussendlich geht es bei den Neue Ernährungsempfehlungen des Bundes die Ende 2024 veröffentlicht werden sollen um die Frage: was beim Ernährungsratgeber Priorität haben soll: dass Menschen möglichst alt werden oder dass sie eine lebenswerte Zukunft haben.. Diese Diskussion wird in einem Artikel des Tagesanzeigers zum Thema «Gesund essen oder die Umwelt schützen – was ist wichtiger?» weiter beleuchtet.
Fazit zur Gegenüberstellung der Berichte von ESU und CHUV
Der Bericht des CHUV soll wissenschaftliche Grundlagen für die Überarbeitung der Ernährungsempfehlungen zur Verfügung stellen. Diese erscheinen jedoch lückenhaft, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass von ESU-services bereits früher ein ausführlicher Bericht hierzu erstellt wurde. Insbesondere die Datengrundlage, die in einem zweiten Schritt die Grundlage für eine statistische Optimierung bilden soll, ist aus Sicht der Autoren (und uns) nicht optimal. Aus unserer Sicht besteht dringend Nachbesserungsbedarf.
Um die Abwägung zwischen gesunder und nachhaltiger Ernährung zu versachlichen, schlagen wir eine externe, kritische und transparente Evaluation der beiden Berichte durch unabhängige Fachleute vor, damit die künftigen Schweizer Ernährungsempfehlungen tatsächlich auf einem aktuellen und wissenschaftlich glaubwürdigen Ansatz beruhen. So könne auch eine einheitliche Basis für die gesellschaftliche Debatte geschaffen werden.
Bei einigen Punkten gibt es auch Einigkeit zwischen beiden Berichten. Etwa bei der grundsätzlichen Aussage, dass die Ernährung ein wesentlicher Treiber für die von der Schweizer Bevölkerung verursachten Umweltbelastungen ist. So heisst es auch im CHUV-Bericht: «Diese Ergebnisse bestätigen, dass eine Ernährung mit einem hohen Verzehr von rotem Fleisch nicht mit dem Ziel einer nachhaltigen Ernährung vereinbar ist.» Geflügel habe zwar die geringsten Umweltauswirkungen aller Fleischsorten, diese seien aber immer noch höher als bei veganen Fleischalternativen. Deshalb scheint es auch nötig die öffentlichen Mittel für die Absatzförderung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen anzupassen und umweltfreundliche und gesunde pflanzliche Produkte deutlich stärker zu berücksichtigen und die finanziellen Mittel für den Absatz von Fleisch und Milchprodukten zu kürzen.
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